Was nicht sein darf, kann nicht sein
Gezielt lückenhafte Artikel in den traditionellen Medien machen den Erfolg alternativer Kommunikationsformen erst möglich. Köppel, Wagenknecht und Co. finden ihr Publikum nicht trotz, sondern dank der selektiven Berichterstattung in den Leitmedien.
Dies gelesen: «Tiktok, Erklärvideos, Instagram oder die gute alte Website – mit vielen Mitteln versuchen die Parteien im Wahljahr, ihre Botschaften direkt bei den Wählern zu platzieren.» (Quelle: Tages-Anzeiger, 26.10.2022)
Das gedacht: In einem ganzseitigen Artikel mit grossem Foto begleitete kürzlich die Tagi-Redaktion den Start des neuen Videoblogs der SP-Doppelspitze. Mehr Gratis-Werbung geht nicht. Mit ihrem Podcast möchten Meyer und Wermuth die Überlegungen der SP «auf eine Art und Weise erzählen, die Leute interessiert.» Offensichtlich traut man dies den traditionellen Medien nicht zu.
Im Tagi-Artikel wird zu Recht festgestellt, dass immer mehr Politikerinnen und Politiker versuchen, mit Videoblogs, auf TikTok oder Instgram die Wählerinnen und Wähler direkt anzusprechen. Eigene Kanäle sind der Zeitgeist, so Lorenz Furrer von der PR- und Lobbyagentur Furrerhugi in Bern. So können gezielt eigene Themen bewirtschaftet und die eigenen «Stakeholder» bedient werden,
Im Grunde genommen Schnee von gestern. Bemerkenswert ist denn auch weder der Artikel an sich noch sind es die angeführten Beispiele für das veränderte Kommunikationsverhalten der Politik. Neben der SP-Spitze, die es nach Erscheinen des Tagi-Artikels mit ihrem neuen Format von 2000 auf immerhin 5000 Klicks brachte, wird Nationalrat Andri Silberschmidt genannt. Der junge Strahlemann der Zürcher FDP hat auf Tiktok 13’000 Follower. Den Ehrenpreis erhält Teleblocher mit rund 15’000 Userinnen und Usern.
Entscheidend an diesem Artikel ist nicht, was drinsteht, sondern das, was weggelassen wurde. Mit keinem Wort erwähnt wird Nationalrat Roger Köppel, der mit seinem Weltwoche Daily auf Youtube mehr als 100’000 Abonnenten hat und kürzlich mit einem einzelnen Beitrag 250’000 Aufrufe generierte. Im Vergleich dazu: Der Tages-Anzeiger hat auf Youtube exakt 1310 Abonnenten. Der Erkenntniswert des Artikels entspricht damit einem Beitrag zum Schweizer Tennissport, der keine Zeile Roger Federer widmet.
Man braucht kein Fan von Köppels Beiträgen und seinen Botschaften zu sein, um festzustellen, dass hier ein Einzelkämpfer Mediengeschichte schreibt. Vergleichbar Sarah Wagenknecht in Deutschland. Politische Aussenseiter bauen an einer Art medialer Gegenöffentlichkeit. Ein Umstand, der unsere Politik verändert und eine vertiefte journalistische Auseinandersetzung bitter nötig hätte.
Nur, dies interessiert den Tagi-Journalisten nicht. Was nicht sein darf, kann nicht sein. Dies gilt auch für die Redaktion des Schweizer Radios. Kürzlich berichtete man über die stark zunehmende Jugendkriminalität. Mit keinem Wort nachgegangen wurde einem möglichen Zusammenhang mit Migrationsfragen. Entscheidend ist nicht die Suche nach der Wahrheit, sondern die politische Korrektheit.
Mit Blick auf seinen Informationswert ist der zitierte Tagi-Artikel kaum das Papier wert, auf dem er gedruckt wurde. In zweifacher Hinsicht ist er aber wohl unfreiwillig erhellend. Erstens zeigt er, dass die gezielt lückenhaften Artikel in den traditionellen Medien den Erfolg alternativer Kommunikationsformen erst möglich machen. Köppel, Wagenknecht und Co. finden ihr Publikum nicht trotz, sondern dank der selektiven Berichterstattung in den Leitmedien. Totschweigen funktioniert im Zeitalter sozialer Medien nicht. Und zweitens belegt der Tagi-Artikel mit aller Deutlichkeit, wie sehr die Konzernmedien heue selbst Teil politischer Kampagnen sind. Auf Kosten ihrer Glaubwürdigkeit. Gemäss einer aktuellen Untersuchung der Universität Zürich vertrauen mehr als die Hälfte der Schweizer Bevölkerung den etablierten Medien nicht mehr.