Vorauseilender Gehorsam
Der gigantische Staatsapparat mit seinen vermeintlich unbegrenzten finanziellen Mitteln und den damit verbundenen Abhängigkeiten ist eine Gefahr für unsere direkte Demokratie. Kein Hund beisst die Hand, die ihn füttert.
Lang, lang ist’s her. Vor vielen Jahren besuchte ich eine Versammlung des Gewerbeverbandes der Stadt St.Gallen. Unter anderem ging es um die Parolenfassung zu einem bedeutenden Bauprojekt der Stadt. Der Vorstand des Gewerbeverbandes zeigte sich kritisch und empfahl Stimmenthaltung. Da meldete sich ein prominenter Bauunternehmer zu Wort. Und dies mit einer klaren Botschaft: Stimmenthaltung kommt nicht in Frage. Staatliche Bauprojekte werden vom Gewerbeverband unterstützt. Ohne Wenn und Aber.
Der Bauunternehmer setzte sich durch. Wenig überraschend. Die öffentliche Hand ist die wichtigste Kundin des Baugewerbes. Jedes Bauprojekt bringt Umsatz. Je teurer, umso besser. Da bleibt kein Platz für kritische Bemerkungen.
Der Bund, die Kantone, die Gemeinden und die öffentlichen Sozialversicherungen geben jedes Jahr 240 Milliarden Franken aus. Die öffentliche Hand ist ein übermächtiger Auftraggeber. Und dies nicht nur für das Baugewerbe. Die vier grossen Wirtschaftsprüfer der Schweiz beispielsweise kassieren für ihre Beratungsleistungen über die Jahre Hunderte Millionen Franken vom Staat.
Nun kann man den 240 Milliarden Franken entgegenhalten, dass nur ein Teil davon als Aufträge in die private Wirtschaft fliesst. Zudem regelt das Bundesgesetz über das öffentliche Beschaffungswesen die Vergabe von Staatsaufträgen bis ins Detail. Wenigstens ab gewissen Schwellenwerten.
Das grundlegende Problem liegt denn auch weniger in der Auftragsvergabe an sich als vielmehr im vorauseilenden Gehorsam aller, die den Bund, die Kantone und die Gemeinden als Lieferanten bedienen oder bedienen wollen.
Nehmen wir beispielsweise an, eine Kantonsregierung kommt auf die bemerkenswerte Idee, eine Milliarde Franken in eine Spitallandschaft aus dem 19. Jahrhundert zu investieren und in allen Tälern des Kantons Landspitäler zu renovieren. Angesichts der Tragweite der Vorlage wäre zu erwarten, dass sich eine intensive sachpolitische Diskussion entwickelt und sich Fachleute aus allen Disziplinen zu Worte melden. Sollte man meinen.
Das Gegenteil ist der Fall. Die Bauwirtschaft und mit ihr das Gewerbe verstummen. Grossaufträge winken, es geht um sehr viel Geld. Widerspenstige Einzelkämpfer werden in vertraulichen Gesprächen zur Vernunft gebracht. Gesundheitsökonomen können sich eine Auseinandersetzung mit der kantonalen Gesundheitsdirektion und den Spitalunternehmen nicht leisten. Das nächste Beratungsmandat wartet. Auch die Dozentinnen und Dozenten der Hochschulen gehen in Deckung. Man will die öffentliche Hand als die wichtigste Geldgeberin des Bildungswesens nicht verärgern. Vergleichbares gilt für die Gemeindepräsidenten. Spätestens beim nächsten eigenen Projekt brauchen sie die Unterstützung des kantonalen Baudepartementes. Und selbst die Vertreter der Privatspitäler, der Krankenkassen und die Ärztegesellschaft diskutieren nur hinter verschlossenen Türen. Man ist Teil des Systems und den damit verbundenen Abhängigkeiten.
Damit fallen alle aus, die auf Grund ihrer beruflichen Qualifikationen in der Lage wären, mit den Behörden und den Interessenvertretern der kantonalen Spitäler auf Augenhöhe zu diskutieren. Was bleibt, ist die parteipolitische Auseinandersetzung. Und dabei geht es nicht um die Sache, sondern um die Loyalität zur eigenen Gesundheitschefin in der Regierung, zum eigenen Bauchef. Damit ist die Angelegenheit geritzt. Die Vorlage geht problemlos durch.
Was die politische Diskussion nicht zu leisten vermag, erledigt die wirtschaftliche Entwicklung. Defizite häufen sich, Qualitätsprobleme machen sich bemerkbar, Fachleute fehlen. Neue Spitalbauten werden gar nicht erst in Betrieb genommen, Fehlplanungen mit Kostenfolgen in Millionenhöhe abgeschrieben. Plötzlich geht alles sehr rasch. Spitäler werden geschlossen, die kantonsübergreifende Spitalplanung an die Hand genommen. Der Volksentscheid verkommt zur Makulatur.
Was bleibt, ist die grundsätzliche Problematik einer durch die Behörden und ihre finanzielle Macht beeinflusste politische Diskussion. Kein Hund beisst die Hand, die ihn füttert. Der gigantische Staatsapparat mit seinen vermeintlich unbegrenzten finanziellen Mitteln und den damit verbundenen Abhängigkeiten ist eine Gefahr für unsere direkte Demokratie. Daran können auch die perfektesten Gesetze zum öffentlichen Beschaffungswesen nichts ändern. Die Dosis macht das Gift. Auch beim Staatshaushalt.