Ohne Widerspruch kein Fortschritt
Den Stillstand der Ostschweiz werden wir nur überwinden, wenn wir endlich zu einer vernünftigen Streitkultur finden und links wie rechts, in unseren Parteien und Verbänden versteckte Denk- und Redeverbote hinter uns lassen.
Dies gelesen: «Wir gehen nicht unter in den Niederlagen, sondern in den Auseinandersetzungen, die wir nicht führen.» (Quelle: Beschriftung über der Eingangstüre zur Brasserie Lorraine, www.nzz.ch, 30.11.2022)
Das gedacht: Lang, lang, ist’s her. In den siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts verdiente ich mein Taschengeld als Securitas-Wächter an der OLMA. In Erinnerung geblieben ist auch die Fahrt mit dem Sonderzug an die Messe Comptoir in Lausanne. St.Gallen war Gastkanton, die Knabenmusik St.Gallen Teil des Festprogramms. Grosse Messen prägten auch meine ersten Jahre als Unternehmer. Die Internationale Konsumgütermesse in Frankfurt war ein Muss.
Seither hat sich vieles verändert. Die Digitalisierung bestimmt zunehmend die Art und Weise wie wir kommunizieren, einkaufen und uns unterhalten. Der damit verbundene gesellschaftliche und wirtschaftliche Wandel hinterlässt tiefe Spuren in der Messelandschaft. Grosse Schweizer Publikumsmessen wie Comptoir, Muba, Züspa und der Autosalon in Genf sind Geschichte. Die Frankfurter Messe ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.
Bemerkenswert gut gehalten hat sich die OLMA. Für viele Ostschweizerinnen und Ostschweizer ist sie unverzichtbar. Positiv entwickelt haben sich auch einzelne regionale Fachmessen. Heute fahren unsere Einkäuferinnen nach Bern und München und nur noch selten nach Frankfurt. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Messe- und Eventbranche vor gewaltigen Herausforderungen steht.
Umso erstaunlicher ist es, dass die OLMA und die öffentliche Hand über 170 Millionen Franken in eine neue Mega-Messehalle investieren. Nun ist es zweifellos so, dass jede Krise auch Chancen mit sich bringt. Immer gibt es Sieger und Verlierer. Und wer weiss, vielleicht gelingt es der Ostschweiz für einmal, die Restschweiz und das benachbarte Ausland zu verblüffen.
Diese hoffnungsvollen Feststellungen ändern aber nichts an der Tatsache, dass die Investition in die neue Halle 1 alles andere ein Selbstläufer ist. Im Vorfeld der entsprechenden politischen Entscheidungen wären daher vertiefte, kontroverse Diskussionen zu erwarten gewesen. Weit gefehlt. Das Kantonsparlament bewilligte den kantonalen Beitrag von 12 Millionen Franken für die Überdeckung der Autobahn ohne Gegenstimme. Und auch für den städtische Beitrag von 18 Millionen Franken gab es im Stadtparlament keine einzige Nein-Stimme. Beide Entscheidungen erinnern in ihrer Einstimmigkeit eher an einen Parteitag der Kommunisten in China als an eine gelebte Demokratie.
Wenig überraschend stimmte auch das städtische Stimmvolk deutlich zu. Alle Parteien und Verbände unterstützten die Vorlage, eine echte öffentliche Diskussion fand nicht statt. Und dies aus einem einfachen Grund. Die Olma galt bisher als unberührbar, als heilige Kuh. Alle Parteien und Verbände sind in irgendeiner Form in die verantwortlichen Gremien eingebunden. Vergleichbares kennen wir aus anderen Bereichen der Politik. Der öffentliche Verkehr, unsere Museen und Theater, Bibliotheken, soziale Einrichtungen, die Berufslehre, die Sozialpartnerschaft und vieles mehr entziehen sich einer offenen politischen Auseinandersetzung. Wer sich kritische Gedanken erlaubt, gilt rasch einmal als Nestbeschmutzer, als Kulturbanause, als Spassbremse, erntet einen Shitstorm.
Die fehlende Bereitschaft zur vertieften inhaltlichen Auseinandersetzung jenseits ideologischer Schützengräben erklärt in vielen Bereichen den Stillstand staatlichen Handelns. Dies gilt ganz besonders für den Kanton St.Gallen mit seinen regionalpolitischen Befindlichkeiten. Beispielhaft für dieses Versagen ist die Spitalpolitik. Jahrzehntelang leisteten wir uns eine aus der Zeit gefallene Spitallandschaft. Diskutiert wurde über regionale Interessen, über Arbeitsplätze vor Ort und undichte Fenster. Die wirklich wichtigen Fragen der Gesundheitspolitik wie Qualitätssicherung, Fachkräftemangel, Finanzierungsmodalitäten oder die Zunahme ambulanter Behandlungen jedoch waren tabu. Echte Reformen wurden erst möglich, als selbst der letzte Mohikaner realisierte, dass den Spitälern das Geld ausgeht.
Vergleichbares erleben wir derzeit bei der OLMA. Erst jetzt gibt es eine offene Diskussion zur Zukunft des Messeplatzes, erst jetzt stellt man den landwirtschafts-, verbands- und behördenlastigen Verwaltungsrat und den vergleichbar organisierten Beirat in Frage. Erst jetzt kommt man zur Einsicht, dass die Herausforderungen eines Messestandortes nur mit den entsprechenden Kompetenzen und nicht mit den korporatistischen Strukturen aus den Zeiten der geistigen Landesverteidigung bewältigt werden können.
Wie die zitierte Beschriftung der Brasserie Lorraine festhält, gehen wir nicht an Niederlagen, sondern an den Auseinandersetzungen unter, die wir nicht führen. Am Wahrheitsgehalt dieser Botschaft kann auch die Tatsache nichts ändern, dass die Brasserie Lorraine ihren eigenen Ansprüchen mit ihrer Intoleranz gegenüber weissen Musikern mit Dreadlocks und Schweizer Soldaten nicht gerecht wird.
Ohne Widerspruch gibt es keinen Fortschritt. Den Stillstand der Ostschweiz werden wir nur überwinden, wenn wir endlich zu einer vernünftigen Streitkultur finden und links wie rechts, in unseren Parteien und Verbänden versteckte Denk- und Redeverbote hinter uns lassen. Wie wäre es, wenn unsere Regierungen für einmal nicht den siebenhundertfünfzigsten Kulturpreis, sondern einen Preis für gelebte Streitkultur ausloben würden?