Politik

Funktionärsfilz in Reinkultur

Die Verstaatlichung des Arbeitsmarktes über den Vollzug der flankierenden Massnahmen ist nicht das Ergebnis direktdemokratischer Verfahren. Vielmehr waren es Verbandsfunktionäre, Regierungen und Behörden, die hinter verschlossenen Türen die Arbeitsmarktpolizei schrittweise ausbauten.

Dies gelesen: Die Schweizer Wirtschaft droht einen Standortvorteil zu verlieren, und zwar das Plus eines relativ liberalen Arbeitsmarktes. (Quelle: NZZ, 17.11.2022)

Das gedacht: In der Tat. Die Sonntagsreden vom liberalen Schweizer Arbeitsmarkt sind bestenfalls wohlformulierte Märlistunden. Eine Tatsache, die mich seit Jahren beschäftigt und die durch eine aktuelle Studie von Avenir Suisse einmal mehr bestätigt wird. Seit 2003 hat sich die Zahl der Arbeitnehmenden, die einem allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag unterworfen sind, mehr als verdreifacht. Das staatliche Arbeitsmarktkartell erfasst heute mehr als 1,1 Millionen Beschäftigte. Auf Bundesebene gibt es einen, auf Ebene der Kantone insgesamt dreissig branchenspezifische Normalarbeitsverträge mit zwingenden, von den Behörden diktierten Mindestlöhnen.

Beginnen wir von vorne. Begleitend zur Einführung des freien Personenverkehrs zwischen der Schweiz und der Europäischen Union hat das Parlament eine Reihe von flankierenden Massnahmen beschlossen. In den Abstimmungsunterlagen zu den Bilateralen Abkommen begründete der Bundesrat die flankierenden Massnahmen wie folgt: «Damit ausländische Arbeitskräfte und Firmen das in der Schweiz geltende Lohn- und Sozialniveau nicht missbräuchlich unterschreiten, haben Bundesrat und Parlament griffigen Gegenmassnahmen beschlossen.»

Mit der aktuellen Vollzugspraxis hat dieses politische Versprechen nichts, aber auch gar nichts zu tun. Heute geht es nicht mehr um Missbrauchsbekämpfung und ausländische Arbeitskräfte, sondern um die flächendeckende Überwachung und schleichende Verstaatlichung des Schweizer Arbeitsmarktes. Die als Tripartite und Paritätische Kommissionen getarnte Arbeitsmarktpolizei führt jedes Jahr rund 40’000 Kontrollen durch. Grossmehrheitlich bei Schweizer Unternehmen. Interveniert wird im Einzelfall, ohne jede rechtliche Grundlage. Wie ist dies möglich?

Der seinerzeitige Gewerkschaftsboss Paul Rechsteiner und der ehemalige SP-Präsident Christian Levrat hatten die Personenfreizügigkeit rasch einmal als Geschenk des Himmels erkannt. Mit der Drohung, notfalls gemeinsam mit der SVP gegen die Bilateralen anzutreten, konnten sie immer neue Verschärfungen in der Vollzugspraxis durchsetzen. Darüber hinaus wurde und wird kräftig abgesahnt. Der Vollzug der flankierenden Massnahmen bringt den Gewerkschaftskassen geschätzte 30 Millionen Franken. Finanziell noch attraktiver sind die Zwangsabgaben der Beschäftigten, die einem allgemein verbindlich erklärten Gesamtarbeitsvertrag unterworfen werden. Die paritätischen Kommissionen kassieren jedes Jahr rund 230 Millionen Franken. Allerdings, das Ganze ist eine Blackbox. Der Wunsch nach mehr Transparenz scheiterte am Widerstand der SP und der Grünen.

Die Gewerkschaften haben dank den flankierenden Massnahmen ihren Mitgliederschwund mit staatlichen Vollzugsaufgaben und der Allgemeinverbindlicherklärung von Gesamtarbeitsverträgen überkompensiert. Wer braucht schon Mitgliederbeiträge, wenn er die Staatskasse und den Mann und die Frau von der Strasse abzocken kann?

Das eigentliche Problem liegt allerdings nicht bei den Gewerkschaften. Diese haben lediglich die Gunst der Stunde genutzt und mit strategischer Überlegenheit ihre eigenen Interessen optimiert. Auf der ganzen Linie versagt haben die Arbeitgeber- und Branchenverbände. Statt auf einen gesetzes- und verordnungskonformen Vollzug zu bestehen, ging man vor den gewerkschaftlichen Drohgebärden in die Knie. Immer ging es darum, so wortwörtlich der ehemalige Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, mit Geschenken wie dem ersten nationalen Normalarbeitsvertag die Gewerkschaften bei Laune zu halten. Die Arbeitgeberschaft hat das Kämpfen verlernt. Kurzfristige politische und wirtschaftliche Vorteile werden stärker gewichtet als langfristige Interessen. Ordnungspolitische Überzeugungen spielen keine Rolle mehr.

Dumm nur, dass das Duckmäusertum den Arbeitgebern nichts gebracht hat. Kaum war das institutionelle Rahmenabkommen auf der Agenda, zog Rechsteiner seine rote Linie. Gespräche mit dem Bundesrat wurden verweigert. Die unheilige Allianz mit der SVP zeigte Wirkung. Der Bundesrat zog dem institutionellen Rahmenabkommen ohne Plan B den Stecker. Für die Anliegen der Exportwirtschaft gab es nicht einmal ein müdes Lächeln. Die Bilateralen erodieren. Der Schweizerische Arbeitgeberverband und Economiesuisse stehen mit dem Rücken zur Wand.

Selbstverständlich ist zu akzeptieren, wenn politische Mehrheiten der Überzeugung sind, dass ein verstaatlichter Arbeitsmarkt zukunftstauglicher ist als die Vertragsfreiheit von Arbeitnehmenden und Arbeitgebenden. In dieses Kapitel gehören kantonale Mindestlöhne, die an der Urne eine Mehrheit finden. Es ist nicht verboten, sich das eigene Grab zu schaufeln. Darum aber geht es beim kritisierten Vollzug der flankierenden Massnahmen nicht. Die heutige Vollzugspraxis ist nicht das Ergebnis direktdemokratischer Verfahren. Vielmehr waren es Verbandsfunktionäre, Regierungen und Behörden, die hinter verschlossenen Türen den Vollzug schrittweise ausbauten. Über die Köpfe der Betroffenen hinweg. Funktionärsfilz in Reinkultur.

Mit den flankierenden Massnahmen wollte man einst den Arbeitsmarkt vor temporär in der Schweiz tätigen Arbeitnehmenden schützen, die zu missbräuchlich tiefen Löhnen arbeiten. Heute stellt sich die Frage, wer die Beschäftigten vor dem Missbrauch der flankierenden Massnahmen durch die Funktionärskaste und die Behörden schützt. Eine Fragestellung, die in ihrer grundsätzlichen Bedeutung weit über den Arbeitsmarkt hinausgeht. Lobbyisten sind allgegenwärtig. Ganz besonders dann, wenn es um sehr viel öffentliches Geld geht. Aktuell zum Beispiel in der Energiepolitik.

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