Der institutionelle Stillstand ist keine Option
Wer in Zeiten des Wandels seinen eigenen Weg gehen will, muss alles Bisherige, alles scheinbar Selbstverständliche in Frage stellen und mit Blick auf die Konsequenzen von Globalisierung und Digitalisierung neu erfinden. Auch unsere Institutionen und politischen Prozesse.
Die SVP hat ein Problem. Nach beispielslosen Erfolgsjahren stottert der Motor. Wähleranteile und Abstimmungen gehen verloren. Die Mobilisierung der Basis will nicht mehr so richtig gelingen. Der Glanz des Sünnelis verblasst. Diese Entwicklung hat verschiedene Gründe. Die Migrationsfrage hat viel von ihrer Brisanz verloren. Wenigstens vorübergehend. Im Fokus der politischen Aufmerksamkeitsindustrie steht die Klimapolitik. Auch in der SVP haben auf nationaler Ebene Berufspolitiker die Generation der unabhängigen Unternehmerpersönlichkeiten abgelöst. Dies auf Kosten der Nähe zur arbeitenden Bevölkerung. Die SVP-Vertreter im Bundesrat und in den kantonalen Regierungen vertreten als Mitglieder von Kollegialbehörden politische Massnahmen, die im Widerspruch zu den Überzeugungen der eigenen Basis stehen. Besonders augenfällig zeigt sich dies bei den SVP-Bundesräten Maurer und Parmelin und dem bundesrätlichen Corona-Diktat.
In erster Linie aber ist die SVP Opfer ihres eigenen Erfolgs. Sie hat ihr Alleinstellungsmerkmal verloren. Die EU-Skepsis, das Kernthema der SVP, ist heute allgegenwärtig und durchdringt alle grossen Parteien. Dies zeigen die Diskussionen rund um das institutionelle Rahmenabkommen. Aus dem von der SVP angestimmten Jubelgesang auf die selbstbestimmte und souveräne Schweiz ist ein vielstimmiger Chor geworden. Dies gilt für die SP und die Gewerkschaften. Mit ihrer als flankierende Massnahmen getarnten Abschottungsmentalität marschieren sie seit jeher im Gleichschritt mit der SVP. Unterstützung finden SVP und SP aber auch bei schwerreichen Finanzkapitalisten aus Zug, eingemitteten Parteipräsidentinnen und Parteipräsidenten sowie ordnungspolitisch beweglichen Ständeräten aus dem bürgerlichen Lager.
Die Digitalisierung hat die Welt verändert
Machen wir uns nichts vor. Die Réduit-Schweiz ist Geschichte. Die Schweiz ist Vertragspartei von deutlich über 4’000 völkerrechtlichen Abkommen. Im Konfliktfall gilt das Recht des Stärkeren. Von unserer Überzeugung, dass sich das Ausland am Bankgeheimnis die Zähne ausbeissen werde, mussten wir uns sehr rasch verabschieden. Vergleichbar die Abschaffung der Steuerprivilegien von Statusgesellschaften. Auch hier handelte die Schweiz unter internationalem Druck, alles andere als souverän. Noch viel ausgeprägter zeigt sich die Ohnmacht nationalstaatlicher Regulierungen in den globalen Herausforderungen, in der Klimakrise, der modernen Völkerwanderung, in den Folgen weltweiter Finanzspekulationen oder etwa der Cyberkriminalität.
Überlagert werden diese Entwicklungen durch die nahezu unbeschränkten Möglichkeiten der Digitalisierung. Wir sind mit Formen von Kommunikation konfrontiert, in denen nicht nur unvorstellbare Datenmengen gespeichert und verarbeitet, sondern diese über alle Grenzen hinweg punktgenau übermittelt werden können. Die Möglichkeit verzugsloser und weltweiter digitaler Verbindungen unterläuft alle traditionellen Puffer und Filter für Raum und Zeit. Innerhalb von nur einer Generation hat ein neues technologisches Paradigma die ganze Welt erobert. Heute sprechen wir alle die gleiche Sprache, die Sprache der Bits and Bytes. Weltweit und unabhängig von politischen Systemen arbeiten wir mit denselben digitalen Werkzeugen und damit mit denselben Kulturtechniken. Die weltweite Gleichzeitigkeit und Gleichwertigkeit digitaler Innovationen macht das Wesen der Globalisierung aus. Ein wahrhaft revolutionärer Umstand, der sich weder mit Strafzöllen noch mit Mauern aus der Welt schaffen lässt.
Es gibt kein Zurück in die Zukunft
Es ist offensichtlich. Globalisierung und Digitalisierung reduzieren die Freiräume für souveräne, nationalstaatliche Entscheidungen. Neue Zeiten brauchen neue Antworten. Der institutionelle Stillstand ist keine Option. Dies gilt auch für unser Verhältnis zur Europäischen Union. Mit dem Rahmenabkommen liegt ein Vorschlag zur Weiterentwicklung des bilateralen Wegs auf dem Tisch. Die Kritiker dieses Vertragsentwurfs sehen insbesondere in der dynamischen Rechtsübernahme und in den Entscheidungskompetenzen des Europäischen Gerichtshofs einen Angriff auf die direktdemokratische Selbstbestimmung und die Souveränität der Schweiz. Dies nicht ganz zu Unrecht. Allerdings, dä Föfer und s’Weggli gibt es auch in der Politik nicht.
An dieser Tatsache können auch die nostalgischen Botschaften der neu aufgetauchten Gegnerschaft eines institutionellen Rahmenabkommens mit ihren wohlklingenden Namen wie Kompass / Europa und Autonomiesuisse nichts ändern. Das Rad der Zeit lässt sich nicht zurückdrehen. Auch nicht mit schönen Worten und unbegrenzten Kampagnenbudgets. Es gibt kein Zurück in die Zukunft. Wer sich nicht bewegt, wird bewegt. Und dies mit grosser Wahrscheinlichkeit in exakt die Richtung, die man abzuwehren versucht. Erinnerungen an längst vergangene Zeiten werden wach. Nach dem Franzoseneinfall im Jahre 1798 krachte die Alte Eidgenossenschaft wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Die wohlhabenden Eliten in Stadt und Land hatten es verpasst, das politische System den neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten anzupassen. Es fehlte nicht an Einsicht, aber an der Kraft, entsprechend dieser Einsicht zu handeln.
Nur Nein sagen reicht nicht. Alle, die der EU die rote Karte zeigen möchten, müssen eigene Vorstellungen zur Weiterentwicklung unserer Gemeinwesen präsentieren. Und dies mit allen Konsequenzen, auch den negativen. Bekanntlich muss sich alles ändern, wenn man will, dass es so bleibt wie es ist. Wer in Zeiten des Wandels seinen eigenen Weg gehen will, muss alles Bisherige, alles scheinbar Selbstverständliche in Frage stellen und mit Blick auf die Konsequenzen von Globalisierung und Digitalisierung neu erfinden. Auch unsere Institutionen und politischen Prozesse. Ob dies gelingen wird? Zweifel sind angebracht. Zu sehr verklären wir die Schweiz. Zu viele profitieren vom institutionellen Stillstand. Nicht nur in den staatlichen und staatsnahen Sektoren, auch in der angeblich privaten Wirtschaft. Schon Macchiavelli wusste, dass der grösste Feind der neuen Ordnung ist, wer aus der alten seine Vorteile zog.