Nebelspalter Politik

Asylkosten: Das grosse Versteckspiel des Bundesrates  

Dies gelesen: Eine Gesamt- resp. Vollkostenrechnung des Asylbereichs aller drei Staatsebenen (Bund, Kantone und Gemeinden) existiert in der Schweiz nicht. (Quelle: Postulat Knutti, Stellungnahme des Bundesrates)

Das gedacht: Die Forderung nach Transparenz gehört zu den Dauerbrennern linker Politik. Argumentiert wird mit der Stärkung der direkten Demokratie und dem Vertrauen in die Politik. So etwa die Urheber der 2017 eingereichten Transparenz-Initiative.

Das Bedürfnis nach Transparenz schmilzt dann allerdings wie Schnee an der Sonne, wenn das zu erwartende Ergebnis Bundesbern gegen den Strich geht. Beispielweise bei den finanziellen Konsequenzen der Asylmigration.

Die halbe Wahrheit

In diesem Jahr rechnet der Bund mit Ausgaben für das Asylwesen von rund 4 Milliarden Franken. Die offiziell ausgewiesenen Kosten stellen allerdings nur die halbe Wahrheit dar.

Was in dieser Zahl fehlt, sind alle Kosten der Asylmigration in den Kantonen und in den Gemeinden, die nicht vom Bund bezahlt werden:

  1. Dies gilt insbesondere für die Sozialhilfe. Etwa 80 Prozent der anerkannten Flüchtlinge und vorläufig Aufgenommenen beziehen Sozialhilfe. Der Bund überweist für sie während fünf respektive sieben Jahren eine Sozialhilfepauschale. Anschliessend werden die Kantone und die Gemeinden zur Kasse gebeten. 2023 rechnete Martina Bircher vor, dass die Gemeinde Aarburg für ihre 170 Asylbewerber im Durschnitt 15’000 Franken Sozialhilfe pro Kopf und Jahr bezahlen musste. Multipliziert man diesen Betrag mit der Zahl der schweizweit von der Sozialhilfe abhängigen Asylbewerbern und vorläufig Aufgenommenen, dann kommt man auf Ausgaben in Milliardenhöhe.
  2. Dazu kommen ungedeckte Zusatzkosten in den Schulen, in der Integration und der Betreuung. Minderjährige Kinder von Asylbewerbern haben oft einen besonderen Förder- und Bildungsbedarf. Es braucht Sonderschulen, die Sonderpädagogik, integrative Modelle und Spezialklassen.
  3. Weiter geht es mit den Kosten für das Justizwesen. Im Jahre 2024 gingen beim Bundesverwaltungsgericht insgesamt 8198 neue Fälle ein. Zwei Drittel (5349) davon betrafen Asylverfahren.
  4. Belastet werden aber auch die Polizei und die Strafverfolgungsbehörden. Gemäss der aktuellen Kriminalstatistik sind Asylmigranten und vor allem Ausländer ohne ständigen Wohnsitz in der Schweiz für ein Viertel der Straftaten verantwortlich.
  5. Zusatzkosten entstehen darüber hinaus im Gesundheitswesen sowie in der allgemeinen Verwaltung. Dolmetscher, Juristen, Sprachlehrer und Coaches unterstützen Asylmigranten bei der Wahrung ihrer Interessen und beim Erlernen von Alltagskompetenzen.

Kunst der faulen Ausrede

In seiner Stellungnahme zum Postulat Knutti machte der Bundesrat geltend, dass es mit Blick auf die Aufgabenteilung zwischen Bund und Kantonen und die Vielzahl von involvierten Akteuren nicht möglich ist, die «gesamten Kosten des Asylbereichs im Sinne einer Vollkostenrechnung aufzuführen».

Eine Argumentation, die sehr viel mit der Kunst der faulen Ausrede und wenig mit dem Werkzeugkasten der Behörden zu tun hat:

  • Wenn um das EU-Vertragspaket geht, können der Bundesrat, die Bundesverwaltung und die von ihnen beauftragten Berater in die Zukunft blicken. Sie rechnen uns vor, dass bei einem Wegfall der Binnenmarktabkommen und der EU-Forschungsprogramme die Löhne der Niedrig- und Mittelqualifizierten Jahre 2045 (!) 08 Prozent tiefer liegen. Nicht mehr und auch nicht weniger.
  • Ganz anders sieht es aus, wenn nicht das Orakel von Delphi gefragt ist, sondern der nüchterne Blick in die Gegenwart. Dann geht plötzlich nichts mehr. Dabei wird unterschlagen, dass die Kosten für die Asylmigration, die in den einzelnen Gemeinwesen und Institutionen anfallen, alles andere als eine Blackbox
  • Was jedoch fehlt, ist der Wille, diese Kosten in einer Studie zusammenzufassen und wissenschaftlich aufzuarbeiten. Aus einem einfachen Grund: Bundesbern fürchtet das Resultat.

Ehrliches Preisschild

Das asylpolitische Versteckspiel des Bundesrates ist mehr als ein finanzpolitisches Problem. Es missachtet die Spielregeln einer funktionierenden Demokratie.

Voraussetzung einer korrekten politischen Willensbildung ist die verständliche, unverfälschte und umfassende Darlegung aller relevanten Fakten. Dazu gehört ein ehrliches Preisschild.

Dies gilt ganz besonders in einer direkten Demokratie, in der in entscheidenden Sachfragen das Volk und nicht Berufspolitiker das letzte Wort haben.

Behörden, die ihren Informationsauftrag im Sinne der eigenen politischen Agenda interpretieren, verhalten sich unfair. In einem Fussballspiel wäre dies ein Fall für die rote Karte.

Erstpublikation am 23.9..2025 auf www.nebelspalter.ch

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Braucht die Schweiz einen politischen Kulturwandel?

Dies gelesen: «Cottier fordert einen Kulturwandel.» (Quelle: NZZ, 17.3.2025)

Das gedacht: ». Thomas Cottier lehrte als Professor für Europarecht und Wirtschaftsvölkerrecht an der Universität Bern. Zudem war er Mitglied oder Vorsitzender mehrerer GATT- und WTO-Gremien und in internationalen Schiedsgerichten.

Als Präsident der europafreundlichen Vereinigung «Die Schweiz in Europa» und als einer der Wortführer der gescheiterten Europainitiative darf man ihn wohl getrost als «EU-Turbo» bezeichnen.

Waffengleichheit der besonderen Art

Wenig überraschend unterstützt Cottier das EU-Vertragspaket. Besonders angetan hat es ihm das Ad-hoc-Schiedsgericht, das im Streitfall zwischen der Schweiz und der EU eingesetzt wird. «Es wird Waffengleichheit geschaffen, obwohl die EU die stärkere Partnerin ist», so Cottier

Überraschender dagegen ist, dass im NZZ-Artikel die Bedeutung des Europäischen Gerichtshofs für das Schiedsverfahren nicht thematisiert wird:

  • Betrifft eine Streitfrage einen Begriff aus dem EU-Binnenmarktrecht, legt das Schiedsgericht diese dem EuGH zur Auslegung vor. Das Urteil des Europäischen Gerichtshofs, der sich selbst als Motor der europäischen Integration versteht, ist für das Schiedsgericht und damit für die Schweiz verbindlich. Das Gericht der Gegenpartei. Eine Waffengleichheit der besonderen Art.

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Weshalb das politische System den Sonderfall Schweiz ausmacht – und weshalb wir gut daran tun, dafür Sorge zu tragen.

Dies gelesen: «Sonderfall Schweiz – 734 Jahre sind genug.» (Quelle: WOZ, 7.8.2025)

Das gedacht: Es ist wieder einmal soweit. Die reaktionäre Linke erklärt das Ende des Sonderfalls Schweiz. Konkreter Anlass dazu bietet dem WOZ-Redaktor der Zollhammer von Trump.

Bedient werden im Artikel von Kaspar Surber die üblichen Klischees aus den 90er-Jahre des letzten Jahrhunderts:

  • Der Sonderfall wird mit der Vorstellung «von einer schicksalhaften, gottgewollten Auserwähltheit seit 1291» in Verbindung gebracht.
  • Diesem Bild wird eine Schweiz gegenübergestellt, die vom Sklavenhandel und von kolonialer Ausbeutung profitierte und von Grossbanken, die das rassistische südafrikanische Appartheimregime stützten.

Einseitiger geht es nicht. Jeder halbwegs gebildete Mensch weiss, dass die Schweiz seit jeher mit der ganzen Welt verbunden ist. Ein Beispiel dafür ist St.Gallen, die Heimatstadt des WOZ-Autors.

  • Im 9. und 10. Jahrhundert war das Kloster St.Gallen eines der kulturellen Zentren des deutschsprachigen Raums.
  • Ab dem 15. Jahrhundert verkauften St.Galler Leinwandhändler ihre hochwertigen Produkte in ganz Europa.
  • In der zweiten Hälfte des 19. und anfangs des 20. Jahrhunderts eroberte die St.Galler Stickerei die Welt. Die wichtigsten Exportländer waren Frankreich und die USA.

Die Schweiz hat nie als einsame Insel funktioniert. Schon immer verdienten wir unseren Wohlstand im engen Austausch mit unseren Nachbarländern und der weiten Welt. Gemäss dem KOF Globalisierungsindex gehört die Schweiz heute zu den am stärksten globalisierten Ländern. Dabei versteht sich von selbst, dass es in dieser jahrhundertelangen Geschichte auch dunkle Kapitel gibt.

Die Alleinstellungsmerkmale

Nur, darum geht es nicht. Nicht die weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen mit all ihren Sonnen- und Schattenseiten, sondern das politische System macht den Sonderfall Schweiz aus.

Um dies zu verstehen, genügt ein Blick auf die offizielle Bezeichnung unseres Bundesstaates: Schweizerische Eidgenossenschaft. Der «Eid» und die «Genossenschaft» sind die ursprünglichen Alleinstellungsmerkmale unserer Gemeinwesen.

  1. Der Eid. Als höchste Form der Selbstverpflichtung eines Menschen stand der gemeinsame Schwur der alten Eidgenossen im Gegensatz zum Untertaneneid feudaler Herrschaften. Der Treueschwur galt den Miteidgenossen und nicht einem Herrscher. Angesprochen ist mit der paritätisch-horizontalen Bindung das Prinzip der gegenseitigen Selbsthilfe.
  2. Die Genossenschaft. Dem Genossenschaftsgedanken entsprechend war die alte Eidgenossenschaft als eine Verbindung von unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Stadt- und Länderorten organisiert. Voraussetzung und Zielsetzung der Mitgliedschaft in der Eidgenossenschaft war nicht die Angleichung der politischen Systeme der einzelnen Orte. Der Respekt vor den unterschiedlichen Verfassungsstrukturen und der Verzicht auf eine starke Zentralgewalt machten das Besondere der Eidgenossenschaft aus.

Von unten nach oben

Mit dem Bundesstaat von 1848 gelang es, wesentliche Elemente der alten Eidgenossenschaft in das industrielle Zeitalter zu überführen. Die neue Bundesverfassung war kein Bruch mit der Vergangenheit.

  • Durch den Fortbestand der eidgenössischen Orte als eigenständige Kantone und ein Parlament mit zwei gleichberechtigten Kammern verbanden die Verfassungsgeber das nationale mit dem föderalistischen Prinzip.
  • Verstärkt wurde diese Kontinuität mit der Einführung der direkten Demokratie im Jahre 1874. Nun hatte das Volk auch bei Sachentscheiden das letzte Wort.

Die alte Eidgenossenschaft und den Bundesstaat von 1848 verbindet das genossenschaftliche Staatsverständnis. Unsere Gemeinwesen sind von unten nach oben aufgebaut. Dieses staatspolitische Organisationsprinzip unterscheidet die Schweiz fundamental von allen ihren Nachbarländern und macht den Sonderfall aus.

Entwaffnende Ehrlichkeit

Immerhin, in einem Punkt hat der WOZ-Autor Respekt verdient. Mit entwaffnender Ehrlichkeit spricht er an, was es braucht, um den Sonderfall Schweiz zu entsorgen: «Die vordringliche Reaktion auf den Zollstreit ist (…) der Abschluss der Bilateralen III.»

  • Ganz anders der Bundesrat und die bürgerlichen Befürworter des EU-Vertragspakets, die ohne rot zu werden behaupten, dass sich mit der institutionellen Anbindung der Schweiz an die EU im Grunde genommen nichts ändert.
  • Das Gegenteil ist richtig. Mit der Übernahme von EU-Recht und der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs verabschieden wir uns vom politischen Sonderfall Schweiz. Die Macht verlagert sich in Richtung von Verwaltung und Gerichten. Auf der Strecke bleiben zu einem wichtigen Teil die direkte Demokratie, der Föderalismus und das Milizsystem.

Die Eidgenossenschaft hat Zukunft

Mit der Annahme des EU-Vertragspakets verabschieden wir uns nicht nur vom Sonderfall, sondern riskieren gleichzeitig das Erfolgsmodell Schweiz.

Denn eines ist offensichtlich. Der Schweiz geht es besser als ihren Nachbarstaaten. Die Menschen sind wohlhabender, die Regierungen stabiler, der Staat weit weniger verschuldet, die politische Auseinandersetzung entspannter.

In dieser Erfolgsgeschichte kommt den institutionellen Besonderheiten der Schweiz entscheidende Bedeutung zu:

  • Dank der direkten Demokratie und der Autonomie der Kantone und Gemeinden funktionieren in der Schweiz der Wettbewerb der Ideen und die Integration von politischen Minderheiten.
  • Dies im Gegensatz zu all denjenigen Gemeinwesen, die – mit den Worten von Hayek – die ganze Gesellschaft zu einer einzigen Organisation machen, die nach einem einzelnen Plan entworfen und geleitet wird.

Vieles spricht dafür, dass dies auch in Zukunft so bleiben wird. Ein von unten nach oben aufgebautes Gemeinwesen ist weit besser auf die Herausforderungen einer fragmentierten Gesellschaft vorbereitet als zentralverwaltete politische Systeme. Verschiedenheit lässt sich nur mit Verschiedenheit bewältigen. Die Eidgenossenschaft hat Zukunft. Wir tun gut daran, dem Sonderfall Schweiz Sorge zu tragen.

Erstpublikation am 26.8.2025 auf www.nebelspalter.ch

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Weshalb das EU-Vertragspaket bei der Bundesverwaltung grenzenlose Begeisterung auslöst.

Dies gelesen: «Die Verwaltung löst die meisten Gesetzesprojekte aus.» (Quelle: NZZ, 28.12.2023)

Das gedacht: Im Grunde genommen ist die Sache einfach: National- und Ständerat bilden die Legislative, die gesetzgebende Behörde. Der Bundesrat und die Bundesverwaltung als exekutive Behörde vollziehen diese Gesetze. So steht es in jedem Schulbuch.

Mit diesen verfassungsrechtlichen Grundsätzen hat die Gewaltenteilung von heute allerdings immer weniger zu tun. Auch in der Schweiz. Nicht die gewählten Volksvertreter, sondern die Verwaltung löst die meisten Gesetze aus.

  • Eine aktuelle Studie untersuchte 447 Gesetzgebungsprojekte und Verfassungsrevisionen seit 1972. 225 aller Gesetzesvorlagen gingen auf die Initiative der Verwaltung zurück, also mehr als 60 Prozent.
  • Das Parlament hatte mit Motionen und parlamentarischen Initiativen nur gut halb so viele Gesetzesprojekte lanciert wie die Exekutive. In 26 Fällen stand eine Volksinitiative am Anfang.

Die grosse Mehrheit der Gesetzesprojekte widerspiegelt nicht den Gestaltungswillen des Volkes und des Parlaments, sondern die politische Agenda von Staatsangestellten ohne einen Bezug zu den Unsicherheiten des privaten Sektors und zu den wirtschaftlichen Folgen des eigenen Handelns. Mehr

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Wie der liberale Arbeitsmarkt auf dem Altar der Personenfreizügigkeit geopfert wird.

Dies gelesen: «Der flexible Arbeitsmarkt wird nicht eingeschränkt.» (Quelle: Erläuternder Bericht zum EU-Vertragspaket, S. 214)

Das gedacht: Die Gewerkschaften in der Schweiz haben ein Problem. Sie leiden unter Schwindsucht. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich der Anteil der Gewerkschaftsmitglieder an allen Beschäftigten halbiert. Heute ist nicht einmal mehr eine von sechs angestellten Personen bereit, die Gewerkschaften mit einem freiwilligen Beitrag zu unterstützen. Als Stimme der arbeitenden Bevölkerung fehlt den Gewerkschaften jede basisdemokratische Legitimation.

Nur, für die Gewerkschaftsbosse ist dies kein Problem. Wer braucht schon Mitglieder, wenn man die eigene Organisation mit staatlichem Zwang künstlich beatmen kann? Zum Beispiel mit den flankierenden Massnahmen, dem innenpolitischen Begleitprogramm zur Personenfreizügigkeit. Mit Blick auf den liberalen Arbeitsmarkt ein Trauerspiel in drei Akten:

Erster Akt: Die Volksabstimmung

Im Jahre 200o stimmt das Volk der Einführung des freien Personenverkehrs zwischen der Schweiz und der EU zu. Der Angst vor Lohndruck begegnete man mit flankierenden Massnahmen. In den Abstimmungsunterlagen begründete der Bundesrat diese wie folgt: «Damit ausländische Arbeitskräfte und Firmen das in der Schweiz geltende Lohn- und Sozialniveau nicht missbräuchlich unterschreiten, haben Bundesrat und Parlament griffige Gegenmassnahmen beschlossen». Das Versprechen des Bundesrates war unmissverständlich und fand breite Zustimmung. Im Fokus der flankierenden Massnahmen sollte der Missbrauch der Personenfreizügigkeit durch ausländische Entsendebetriebe stehen. Mehr

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Die direkte Demokratie ist mehr als Volksabstimmungen

Dies gelesen: «Das Verfahren für die dynamische Rechtsübernahme steht im Einklang mit den bestehenden innerstaatlichen Verfahren.» (Quelle: Erläuternder Bericht zum EU-Vertragspaket, S. 90)

Das gedacht: Für den Bundesrat ist die Sache klar. Mit den neuen Abkommen mit der EU bleibt innen- und aussenpolitisch alles beim Alten. Mit der dynamischen Rechtsübernahme verändern sich seines Erachtens weder die innerstaatlichen Verfahren noch die bilateralen Beziehungen. In der Tat. Volksabstimmungen finden nach wie vor statt. Die institutionellen Elemente des EU-Vertragspakets haben für den Bundesrat keinen verfassungsrechtlichen Charakter. An der Urne braucht es deshalb nach Ansicht der Regierung kein Ständemehr. Eine formalistische Betrachtungsweise, die mit der Verfassungswirklichkeit der Schweiz nichts, aber auch gar nichts zu tun hat.

4 Gründe, warum die direkte Demokratie mehr ist als Volksabstimmungen Mehr

Politik

Warum der Bundesrat immer mehr zum Problem wird

Gemäss Art. 174 der Bundesverfassung ist der Bundesrat die «oberste leitende und vollziehende Behörde des Bundes ». Und nicht der Chefverkäufer einer staatlichen Propagandamaschine.

Dies gelesen: «Das EU-Vertragspaket ist wie der Rütli-Schwur» (Quelle: Bundesrat Jans, blick.ch. 15.6.20259)

Das gedacht: Die Absicht ist klar. Mit dem Rütli-Schwur-Vergleich will Bundesrat Jans der SVP mit Blick auf die Auseinandersetzungen um das EU-Vertragspaket den Wind aus den Segeln nehmen und seinerseits die patriotische Karte spielen.

Ebenso klar ist, dass dies Unsinn ist. In der Logik des EU-Vertragspakets hätten Uri und Schwyz Gesetze erlassen können, die auch für Unterwalden verpflichtend gewesen wären. Im Verweigerungsfall hätten Uri und Schwyz ihre Bundesgenossen mit Ausgleichsmassnahmen bestrafen können.

Vielfalt in der Einheit

Die Spielregeln des EU-Vertragspakets sind das exakte Gegenteil von allem, was die alte Eidgenossenschaft auszeichnete.  Dem Genossenschaftsgedanken entsprechend war diese als eine Verbindung von unterschiedlichen, aber gleichberechtigten Stadt- und Länderorten organisiert.

Im genossenschaftlichen Selbstverständnis geht es nicht um Einheitlichkeit, sondern um die in der Präambel der Bundesverfassung angesprochene Vielfalt in der Einheit. Voraussetzung und Zielsetzung der Mitgliedschaft in der Eidgenossenschaft war nicht die Angleichung der politischen Systeme der einzelnen Orte.

In Zürich gaben die Zünfte den Takt an, in Bern die Patrizier. In Appenzell wurden die öffentlichen Angelegenheiten von allen wehrfähigen Männern an der Landsgemeinde entschieden.

Der Respekt vor den unterschiedlichen Verfassungsstrukturen und der Verzicht auf eine starke Zentralgewalt machten das Besondere der Eidgenossenschaft aus. Jeder Ort erledigte die öffentlichen Angelegenheiten für sich selbst, angepasst an die lokalen Verhältnisse.

Mit der Bundesverfassung von 1848 gelang es, die Bedürfnisse der Moderne mit dem staatspolitischen Kerngehalt der alten Eidgenossenschaft zu verbinden und diesen in die Zukunft zu führen. Der Föderalismus, die direkte Demokratie und das Milizsystem zeichnen bis heute die Schweiz aus. Mehr

Politik

Warum dem Staat das Geld ausgeht und was wir dagegen machen können

Wenn ich das Geld anderer Leute für andere Leute ausgeben kann, interessiert mich nicht, wie viel ich ausgebe, und mich interessiert nicht, was ich für das Geld bekomme. (Milton Friedman)

Dies gelesen: Die Fuss- und Velounterführung kostet gut 8.6 Millionen Franken. Die Stadtkasse muss davon gut 2.7 Millionen selber tragen, da Bund und Kanton Beiträge leisten. (Quelle: tagblatt.ch, 4.4.2024)

Das gedacht: Das Stimmvolk des Kantons St.Gallen hat entschieden. Die befristete Erhöhung des Sonderlastenausgleichs für die Stadt St.Gallen um 3.7 Millionen Franken ist vom Tisch. Die SVP hat sich durchgesetzt.

Die Gegner der Vorlage argumentierten unter anderem mit städtischen Luxusprojekten. Als ein Beispiel musste regelmässig die derzeit in Bau befindliche Velounterführung bei der Kreuzbleiche herhalten.

In der Tat. Knapp 9 Millionen Franken für eine Fuss- und Velounterführung lassen aufhorchen. Allerdings liegt der Grund für den äusserst lockeren Umgang mit Steuergeldern nicht in erster Linie bei der Stadt. Im Gegenteil. Diese hat sich durchaus vernünftig verhalten. Ihr Return on Investment ist beeindruckend.

Und trotzdem, oder gerade deswegen, lohnt es sich, genauer hinzusehen. Das Projekt Beginenweg – so heisst das gendergerecht getaufte Gesamtkunstwerk – hilft zu verstehen, wie die staatliche Ausgabenpolitik funktioniert und weshalb der öffentliche Haushalt ein Fass ohne Boden ist. Die Fehler liegen im System. Dazu gehören die gemischte Finanzierung von sogenannten Verbundaufgaben, die Macht der Verwaltung und die Gesinnungspolitik.

A) Teile und herrsche

Obwohl eine innerstädtische Verbindung wird der Veloweg als sogenannte Verbundaufgabe vom Bund, dem Kanton und der politischen Gemeinde finanziert. Die Stadt St.Gallen bezahlt 2.7 Millionen Franken sowie die Kosten für die Projektentwicklung und die Aufwendungen der VBSG für den Bau neuer Leitungsmasten. Vom Kanton kommen 4.2 Millionen, vom Bund 1.2 Millionen Franken. Für die Stadt ein lohnendes Geschäft. Wenig überraschend stimmte die überwältigende Mehrheit des Stadtparlamentes der Vorlage zu. Einzig die SVP-Fraktion hielt dagegen.

Bereits bei Niccolò Machiavelli hiess es «teile und herrsche». Wenn alle zuständig sind, ist niemand verantwortlich. Eleganter lässt sich politischer Widerstand nicht austricksen. Hätte die Stadt St.Gallen die ganzen 8.6 Millionen Franken bezahlen müssen, dann wäre die Vorlage wohl mit einem Finanzreferendum bekämpft worden.

B) Macht der Verwaltung

Entgegen den Diskussionen im Vorfeld der Abstimmung zum Finanzausgleich ist beim Beginenweg nicht die Stadt, sondern der Kanton St.Gallen mit der ganz grossen Spendierhose unterwegs. Allerdings war es nicht das Kantonsparlament, sondern die Verwaltung, die das Geld der Steuerzahler locker machte.

Bezahlt werden die mehr als 4 Millionen Franken aus dem Strassenfonds. Dieser wird vom Strasseninspektorat des Bau- und Umweltdepartements verwaltet. Nicht der Kantonsrat, sondern Staatsangestellte entscheiden über den ganz grossen Staatsbeitrag.

Wie in vielen Bereichen der Staatstätigkeit liegt auch in diesem Zusammenhang die wirkliche Macht bei der Verwaltung. Die Diskussionen im Stadtparlament dagegen waren nicht viel mehr als politisches Schattenboxen.

C) Gesinnung statt wirtschaftliche Vernunft

Sparsamkeit ist keine Tugend mehr. Vor allem dann, wenn es um das angebliche Gute geht. Dies gilt für das grosse Ganze genauso wie für einzelne Projekte wie den Fuss- und Velofahrertunnel in der Kreuzbleiche.

Das politisch korrekte Etikett «Velofahrer» verdrängt jede Diskussion über das Preis- und Leistungsverhältnis eines Bauprojektes. Geld spielt keine Rolle mehr. Was zählt ist die richtige Gesinnung und nicht die wirtschaftliche Vernunft.

Fiskalische Äquivalenz

Der Bund, der Kanton und die Stadt St.Gallen schreiben rote Zahlen. Die öffentliche Hand hat ein Ausgabenproblem. Dies hat auch damit zu tun hat, dass die einzelnen Gemeinwesen Leistungen beanspruchen können, für die andere zur Kasse gebeten werden.

Eine Ausgangslage, die dem in der Bundesverfassung festgelegten Grundsatz der fiskalischen Äquivalenz widerspricht. Dieser verlangt, dass diejenigen Gemeinwesen die Kosten einer staatlichen Leistung zu tragen haben, in denen der Nutzen anfällt. Wer befiehlt, zahlt. Wer zahlt, befiehlt.

Wie das Beispiel der Fussgänger- und Velounterführung Kreuzbleiche beweist, haben wir uns von diesem verfassungsrechtlichen Grundsatz meilenweit entfernt. Die Stadt St.Gallen beschliesst ein Luxusprojekt, bezahlt wird dieses grossmehrheitlich vom Kanton und dem Bund.

Dass unter diesen Voraussetzungen jede finanzpolitische Zurückhaltung verloren geht, versteht sich von selbst. Wenn ich das Geld anderer Leute für andere Leute ausgeben kann, interessiert mich nicht, wie viel ich ausgebe, und mich interessiert nicht, was ich für das Geld bekomme. So Milton Friedmann.

Monistische Staatsfinanzierung

Ohne radikale Reformen bekommen wir den Staatshaushalt nicht in den Griff. Zu diesen Reformen gehört nach meiner Überzeugung der Übergang zu einer monistischen Staatsfinanzierung. Diese legt fest, dass jede Staatsaufgabe aus einer Hand zu finanzieren ist.

Der Bund bezahlt die Nationalstrassen, die Kantone bezahlen die Kantonsstrassen, die Gemeinden die Gemeindestrassen. Die Transferzahlungen des Bundes an die Kantone aus der Spezialfinanzierung Strassenverkehr (SFSV) und aus dem Nationalstrassen- und Agglomerationsverkehrs-Fonds (NAF) werden gestrichen. Für jede öffentliche Aufgabe gibt es nur einen Kostenträger. Die gemischte Finanzierung von Verbundaufgaben fällt weg.

Kantone und Gemeinden können nicht länger ihre politischen Vorhaben auf Kosten des Bundeshaushalts vorantreiben. Gemeinden, die ihre Velowege vergolden wollen, stehen selbst in der Verantwortung. Im Gegenzug erhalten die unteren Staatsebenen ihre Autonomie zurück.

Ein radikaler Vorschlag, der eine umfassende Entflechtung der Aufgaben und eine neue Aufteilung der Finanzströme von Bund und Kantonen zur Folge hätte. In seinen Konsequenzen vergleichbar mit dem Übergang vom Staatenbund zum Bundesstaat.

Literatur: Weigelt, K. (2025). Die Eidgenossenschaft im 21. Jahrhundert. Eine alte Idee für eine neue Zeit, Verlag NZZ Libro

Politik

Braucht die FDP eine gemeinsame Linie?

Die politischen Parteien in der Schweiz sind von unten nach oben aufgebaut. Sie widerspiegeln unsere dezentrale Grundordnung und die Besonderheiten der direkten Demokratie.

Dies gelesen: «Die FDP steht vor einer Zerreissprobe: Die Europafrage rührt an einem alten Trauma.» (Quelle: tagblatt.ch, 3.5.2025)

Das gedacht: Die Sache ist nicht ganz einfach. Laut Medienberichten umfasst das Vertragspaket der Schweiz mit der EU rund 1500 Seiten. Da verliert man rasch einmal die Übersicht.

Dies weiss auch der Bundesrat. Deshalb wird alles unternommen, um die politische Auseinandersetzung bereits im Vorfeld der parlamentarischen Diskussion in die gewünschte Richtung zu lenken. Dazu gehörte, dass in einer ersten Phase nur ausgewählten Politikerinnen und Politikern eine privilegierte Einsicht in das Vertragswerk gewährt wurde.

Zu diesen Manövern gehört aber auch die Frage des Ständemehrs. Noch bevor das Volk und die Kantone – je nach politischer Agenda – die Bilateralen III, respektive das Rahmenabkommen 2.0 kennen, teilt uns der Bundesrat mit, dass die ganze Angelegenheit keinen Verfassungsrang hat.

Wirtschaftspolitiker vs. Staatspolitiker

Im Grunde genommen ist die Ausgangslage aber alles andere als kompliziert. Auch für die FDP. Es stehen sich zwei grundsätzliche Überzeugungen gegenüber:

Auf der einen Seite die Wirtschaftspolitiker. Für sie dreht sich fast alles um die Frage des Binnenmarktes. Aus ihrer Sicht führt mit Blick auf die Interessen des Wirtschaftsstandorts und der Unternehmen kein Weg an der dynamischen Übernahme von Gesetzen und Verordnungen der Europäischen Union und eine Unterstellung unter den Europäischen Gerichtshof vorbei.

Im Gegensatz dazu die Staatspolitiker. Sie gewichten die institutionellen Besonderheiten der Schweiz wie die direkte Demokratie, den Föderalismus oder das Milizsystem stärker als kurzfristige wirtschaftlichen Interessen. Nach ihrer Überzeugung ist ein von unten aufgebautes Gemeinwesen zukunftstauglicher als zentralverwaltete politische Systeme. Mehr

Politik Wissen

Die Eidgenossenschaft als Staatsidee hat Zukunft

Interview: Dr. phil. Stephan Ziegler, Chefredaktor MetroComm AG

In den letzten Jahren ging es in Ihren Publikationen regelmässig um die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der digitalen Gesellschaft. Ihr aktuelles Buch setzt sich nun aber mit der Eidgenossenschaft als Staatsidee auseinander. Haben Sie vom Vorwärtsgang in den Rückwärtsgang umgeschaltet?

Nein, überhaupt nicht. Auch in meinem aktuellen Text gehe ich der Frage nach, was die digitale Revolution für unsere Institutionen bedeutet. Dies in der Überzeugung, dass neue Zeiten neue Antworten brauchen.

Was macht denn nach Ihrer Ansicht diese «neue Zeit» so besonders?

Die Digitalisierung, aber auch die Globalisierung und die Migration bewirken eine zunehmende Ausdifferenzierung sozialer Beziehungen. Die immer wieder beklagte Fragmentierung aller Lebensbereiche ist nicht das Problem, sondern das Wesen der Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Fragmentierte soziale Strukturen treten an die Stelle einer bisher zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung hochgehaltenen Einheitlichkeit von Staatsvolk, Staatsgebiet und Staatsgewalt.

Das tönt nun aber etwas sehr theoretisch. Was bedeutet das in der Praxis?

Der Versuch, die Unsicherheiten einer sich verändernden Welt mit immer mehr Vorschriften und Kontrollen, mit dem Ausbau der öffentlichen Verwaltung und staatlich finanzierten Programmen in den Griff zu bekommen, scheitert an der Komplexität einer fragmentierten Gesellschaft. Dies zeigen die allgegenwärtigen politischen Krisen, die explodierenden Staatsschulden und der Vertrauensverlust in die politischen Institutionen. Verschiedenheit lässt sich nur mit Verschiedenheit bewältigen.

Und was hat die alles mit der Eidgenossenschaft als Staatsidee zu tun? Mehr